Berichte

Niederschrift der Besprechung über die Südtiroler Frage

stattgefunden am 26.6.39 von 16−17.50 im Geheimen Staatspolizeiamt,
Berlin SW 11, Prinz-Albrecht-Str. 8 (Text der deutschen Delegation)
Vorsitz: Reichsführer-SS H. Himmler;

Teilnehmer der italienischen Delegation: u.a. Exzellenz Attico, kgl. ital. Botschafter und Mastromattei, Präfekt von Bozen;
[…] der italienische Botschafter […] ließ als Antwort durch den Gesandten Graf Magistrati eine schriftlich ausgearbeitete Denkschrift verlesen, die zum Ausdruck brachte, dass der italienische Botschafter in der Durchführung des gemeinsam vom Führer und vom Duce beschlossenen Planes einen Akt höchster politischer Weisheit erblickte, dass es jedoch notwendig sei – wie er sich ausdrückte −, alle Würmer zu vernichten, die an der Realisierung der Aufgabe nagten. Sehr erschwerend sei der starke Widerstandsgeist der Südtiroler, vor allem im Alto Adige, Trento, Belluno. […]

Der Präfekt gibt die Zahlen der in Südtirol lebenden Reichsdeutschen mit ca. 2.000 Menschen mehr an als sie in den Listen Bene’s erfasst sind. […] Schwierig und peinlich sei für die Italiener noch zu unterscheiden und zu entscheiden, wer ist Deutscher und wer Italiener 1. oder 2. Grades. Die Zahl der italienischen Staatsangehörigen deutschen Ursprungs und deutscher Sprache sei nicht einfach festzustellen. Es handle sich um ca. 200.000, davon seien jedoch etwa 100.000 italienischer oder fast italienischer Abstammung. Die völkische Verschmelzung sei unter dem alten Habsburger Staat infolge häufiger Versetzung österreichischer Beamter von Ungarn und anderer ehemaliger österreichischer Gebietsanteile sehr weit fortgeschritten.

Die Frage, wer von diesen 200.000 italienischen Staatsangehörigen deutschen Ursprungs sei und die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen bekommen soll, wird zwischen dem Präfekten von Bozen und Bene dahingehend übereinstimmend gelöst, dass in allen Fällen, in denen die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt wird, die Auswanderung nach Deutschland von den italienischen Stellen nicht nur gebilligt sondern gefördert und unterstützt wird. […] Reichsführer-SS bemerkt hierzu, sicher sei es schwierig, da deutsche Zeitungen für die Touristen öffentlich kaufbar seien und man sich überlegen müsse, wie man den Kauf deutscher Zeitungen durch nichtreichsdeutsche Italiener verhindern wolle. […] Auf die nicht-bodengebundenen italienischen Staatsangehörigen deutscher Art soll ebenfalls ein starker Druck ausgeübt werden. Vorschlag Reichsführer-SS: Einrichtung einer amtlichen deutschen Aus- und Rückwanderungsstelle in Italien zu plakatieren, die von der Auslandsorganisation zusammen mit der Volksdeutschen Mittelstelle einzurichten wäre. […] Der Präfekt von Bozen gibt an, dass besonders eine Druckerei in Innsbruck diese Propagandaschriften herstelle. Reichsführer-SS bittet um Namensangabe, verspricht sofortige Beschlagnahme und Enteignung aller katholischen Druckereien in Nordtirol. Derartige Maßnahmen haben erfahrungsgemäß auch im Reich sehr gut unterbindend gewirkt . […]

Attico vertritt demgegenüber den Standpunkt, bei einer Umsiedlung nur nach Nordtirol sei das Problem Südtirol lediglich nach Nordtirol verschoben, jedoch nicht gelöst. Er sähe in einem Kontakt der nach Nordtirol ausgewanderten Tiroler mit den zurückbleibenden Südtirolern eine große Gefahr. Reichsführer-SS (unangenehm berührt von dieser Einmischung in innerdeutsche Verhältnisse, – denn was geht die Italiener es an, wohin wir die Südtiroler umsiedeln?) sagt zu der geschickt beschwichtigenden Bemerkung des Gesandten Magistrati, die Anregung seines Botschafters möge nicht verübelt werden, sie bedeute lediglich ein offenes Wort unter Freunden, ob 400.000 Nordtiroler und Südtiroler an der Grenze Italiens wohnen, bilde seiner Meinung nach keine Gefahr. Die Tiroler fühlten sich stets als Gesamtvolk. […]

aus Schlern-Schriften 282/2

Nirgends mehr daheim

30. Juni

[…] Seit der Rede Hitlers in Rom von der „gottgewollten, ewigen Grenze“ geht eine dumpfe Verzweiflung durch unsere Bevölkerung. Sie hat sich noch verstärkt durch unzählige Verbrüderungen hier und dort, durch ein Benehmen bei solchen Gelegenheiten, dem es an jeder nationalen Würde mangelt. In Innsbruck darf von Südtirol kaum mehr gesprochen werden. Über unser Land darf nicht mehr geschrieben, Bücher von uns nicht mehr verlegt werden ….
Gestern aber kam ein anderer Alarm, der die Leute völlig erstarren machte. Es ist nichts weniger, als dass wir binnen zwei Jahren das Land verlassen müssen. […]

4. Juli

Dekret ist noch keines gekommen, überhaupt ist noch nichts offiziell bekannt. Die wildesten Gerüchte laufen herum, werden geglaubt oder mit Kopfschütteln aufgenommen. Die Bauern sagen: Wir gehen nicht, andere glauben den Aussprengungen nicht. […]

12. Juli

[…] willst du Zorn, Trotz, Verzweiflung in den alten, gegerbten Gesichtern lesen, willst du ein ganz und gar hilflos gewordenes Volk sehen, das sich um seine Heimat verkauft und verhandelt fühlt, so komme zu uns herein. […] Andere sagen, es komme zu einer Abstimmung; wer gehen will (will! Ja!) kann gehen, wer bleiben will, bleibt. Nun gut, sagen die Leute weiter, was geschieht mit denen, die bleiben? Die sind wohl allen Willküren dann doppelt ausgeliefert und stehen außerdem in Gefahr, bei irgendeiner Gelegenheit nach Italien abgeschoben zu werden. […]

19. Oktober

Also wir Brunecker oder alle Südtiroler kommen geschlossen nach Zankopane in der Hohen Tatra. Auch die Bauern bekommend dort Grund und Boden. […]

27. Oktober, Stegermarkt

[…] Aber auch etwas anderes schneite es gestern herein: „Richtlinien der Abwanderung“. Als ich zum Turm kam und die erste Zeitung in die Hand nahm, prallten mir diese Richtlinien entgegen. […]

31. Oktober

Ein Geistlicher zeigte mir heute eine bischöfliche Verordnung, wonach den Geistlichen verboten wird, sich in die Angelegenheiten der Auswanderung einzumischen. […]

19. November, Sonntag

Die Schlacht ist geschlagen. Verwirrung in Rom über eine solche Einmütigkeit, Kopflosigkeit bei den Podestàs, diesen Blutsaugern, von denen schon sechs geflogen sind und noch weitere nachfolgen werden, auch wie man hofft der Mastromattei. Man munkelt allerlei weitere Änderungen. […] Der Geist der Leute ist herrlich. Wie nach einem Siege, der gewiss ist. […]

29. November

Der erste Schub aus Südtirol (man spricht von über 400 Personen) wurde glücklich nach Innsbruck gebracht. Die „Innsbrucker Nachrichten“, die darüber berichteten, wurden hier beschlagnahmt. Manches über den Empfang sickerte durch. Wiltenermusik in Tracht, Hitlerjungen, welche ihnen die Koffer abnahmen, Festessen im „Breinössl“ mit Ansprache vom Gauleiter. […]

1. Dezember

[…] Die Buchensteiner werden vom dortigen Podestà bestraft, wenn sie nach Bruneck „wählen“ gehen. Trotzdem gehen manche den 70 km langen Weg über den Campolongo und zurück. In Weißenbach wählte ein Bauer weiß (für Italien). Als er heimkam, boykottierten ihn die anderen Bauern. Das verdross ihn so, dass er wieder herauskam und nun gelb (für Deutschland) wählte (ob das geht?). […]

aus „Paul Tschurtschenthaler. Nirgends mehr daheim. Brunecker Chronik 1935−1939“ Edition Reatia, Bozen 2000