Wir mussten aufstehen und immer wieder ein Faschistenlied singen

Franz Breitenberger (geb. 1926), Dableiber

Berger Franz kam 28.01.1926 als 7. Kind der Familie auf dem Mittergrober Hof auf die Welt. Er besucht die italienische Schule, was sich bis heute auswirkt. Sein Vater stimmte fürs Dableiben. 1943 wurde er zum Militär einberufen. Nach der Musterung floh er in die Berge. Nach dem Krieg arbeitete er als Sattler in St. Nikolaus. Danach arbeitete er für die STE und danach für die ENEL.

Meine ersten Erinnerungen an den Faschismus beginnen mit der Einschulung. Wir hatten einen ganz fanatischen faschistischen Lehrer, der zu uns meist aber recht freundlich war. An eine Episode erinnere ich mich noch gut. Eines Tages kam der Lehrer in die Schule, sah keinen von uns an und grüßte auch keinen. Er kam in die Klasse, stellte sich hinter dem Pult auf einen Schemel, damit er größer wirkte, denn er war von kleiner Statur. Dann holte er aus der Aktentasche den Abessinien Kriegsbericht von Maresciallo Badoglio hervor und las ihn uns voll Stolz vor. Wir wussten grad mal, dass Abessinien ein bisschen weiter weg war als Bozen, mehr aber auch nicht. Es gab ja noch keinen Fernseher und kein Radio. Danach mussten wir aufstehen und immer wieder ein Faschistenlied singen, obwohl wir kaum den Text verstanden. Als diese Zeremonie dann vorbei war, trat er vom Schemel herunter und war wie ausgewechselt. Auf einmal war er wieder freundlich und nett zu uns. Das war mein erstes richtiges Erlebnis mit dem Faschismus. Einmal hatte ich zu Pause ein Stück Bauernbrot mit. Als er das sah, fragte er mich, was denn das für einen sporcheria sei. Als ich das zuhause erzählte, sagte man mir, dass das halt ein Faschist sei. Da habe ich zum ersten Mal den Begriff Faschismus gehört, konnte damit aber noch wenig anfangen. Die Schule hatte damals einen geringen Stellenwert bei uns zuhause. Meine Eltern konnten kaum italienisch und sie hielten von der italienischen Schule auch nichts. Wenn es auch nur eine geringe Gelegenheit gab, musste ich zuhause bleiben. Dadurch hat man dann in der Schulzeit auch nicht grad viel gelernt. Ich erinnere mich auch daran, dass wir im Winter in der Balilla Uniform von St. Nikolaus nach St. Walburg marschieren mussten. Dabei mussten wir an unseren Heimathöfen in Uniform vorbeimarschieren. Wir haben uns dafür geschämt und alle möglichen Ausreden gesucht, um nicht marschieren zu müssen. Aber es nützte nichts. Man musste marschieren. Und ich habe mich sehr dafür geschämt am elterlichen Hof in der Uniform vorbeizumarschieren. Man hat uns versucht den Faschismus langsam einzuverleiben.

1939 hieß es dann, wenn wir das Deutschtum erhalten möchte, dann gebe es keine andere Möglichkeit als auszuwandern. Ich kann mich noch gut erinnern, dass sie meinen Vater bedrängt haben, er solle fürs Auswandern stimmen. Man redete immer wieder auf ihn ein. Ob er es denn verantworten könne, dass die ganze Familie „verwalscht“ werden würde. Meine Eltern waren hin und her gerissen. Die Dableiber haben dasselbe versucht. Ich erinnere mich an den Herrn Ungerer aus Laurein. Der hat gesagt, wenn wir alle auswandern, dann wird Südtirol sicher „verwalscht“. Und wenn wir das vermeiden wollten, dann müssten wir dableiben und ihnen keinen Platz lassen. Mein Vater hat oft darüber gesprochen. Aber er konnte sich nicht entscheiden. Bei uns zuhause kam auch öfters der Kanonikus Gamper und der Dr. Volgger vorbei. Die haben immer gesagt, dass der Hitler nicht das Volk mag. Das Land würde er schon mögen, aber er hat ja mit Mussolini einen Pakt geschlossen. Von diesen beiden hat mein Vater viel gehalten.

Dann gab es immer wieder Versammlungen. An eine Erinnere ich mich noch gut. Die war für uns dann sicherlich ausschlaggebend. Diese fand im Dezember 1939 statt. Mein Vater kam nach der Versammlung nach Hause und hat uns mitgeteilt, dass er sich nun entschieden habe, nicht zu optieren. Als wir ihn dann fragten wieso, hat er gesagt: „Heint hobm sa mir uanfoch za viel glougn.“ Heute haben sie in der Versammlung behauptet, dass wir alle wieder gemeinsam in einem geschlossenen Gebiet angesiedelt werden würden. Wir hätten diesen Ort in Österreich oder Deutschland dann auch St. Nikolaus nennen können. Wir könnten sogar die Grabsteine mitnehmen. Wir könnten uns die Häuser so einteilen, dass wir wieder die gleichen Nachbarn haben würden. Wir würden also kaum merken, dass wir an einem anderen Ort sein würden. Mein Vater hat sie dann gefragt, welcher Ort es denn sein werde, und warum denn dort keine Menschen leben würden, wenn er denn doch so schön sei. Er hatte damals schon geahnt, dass wohl andere vertrieben werden würden, um Siedlungsgebiet für uns zu schaffen. Die Vertreter, welche die Versammlung organisiert hatten, sagten ihm dann, dass er sich darüber keine Gedanken zu machen brauche, das würden sie alles organisieren. Aber das Ganze war für ihn so auffallend übertrieben geschildert, dass er beschloss dazubleiben.

Auf einer anderen Versammlung in Kuppelwies war Kanonikus Gamper anwesend. Als der dann durch den Wald zur Straße gehen wollte, wollte man ihn abfangen und verprügeln. Dieser hat dies allerdings frühzeitig mitbekommen und konnte so über einen anderen Weg zur Straße gelangen. Die Gruppe Optanten hat freilich die ganze Nacht umsonst auf den Gamper gewartet. Dann am 31. Dezember hat mein Vater dann für sich und uns fürs dableiben gestimmt. Danach begann für uns in der Schule eine relativ schwere Zeit. Die Optantenkinder waren klar in der Mehrheit und haben uns oft gehänselt und wir wurden überall ausgeschlossen. Nach und nach verloren wir dann den Kontakt zu ehemaligen Freunden, ja sogar zu unseren Verwandten. Für die Optantenkinder wurde dann einen deutschprachige Schule eingerichtet, welche von Hilfslehrer unterrichtet wurden. Wir waren davon ausgeschlossen. Wir wären gerne in die deutsche Schule gegangen. Zum einen, weil man viel lieber Deutsch gelernt hätte, und zum anderen gingen viele Freunde nun in die deutsche Schule und man verlor dadurch den Kontakt.

Für mich sind sicherlich die Faschismus Erfahrungen die Hauptgründe, warum so viele für das Auswandern gestimmt hatten. Wir hätten hier nicht einmal mehr zuhause deutsch sprechen sollen. Oder man durfte nicht mehr in geselliger Runde deutsche Lieder singen. Und eins führt zum anderen. Dazu kam die massive Propaganda, vor allem von Seiten der Optanten. Lieber Auswandern, als zu verwalschen. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Eine Rolle spielte sicherlich auch das Gerücht, dass alle Dableiber nach Sizilien kommen würden. Der Kanonikus Gamper hat immer gesagt, dass das alles nicht stimmt, dass wir sicher hierbleiben könnten. Anfänglich hatte der italienische Staat ja nichts dagegen, dass eine gewisse Anzahl an Südtirolern auswandern würde. Und deshalb unternahm man anfänglich nichts gegen dieses Gerücht. Erst als man merkte, dass so viele fürs Auswandern stimmen würden, hat man offiziell das Gerücht als Lüge deklariert. Aber das war wohl zu spät. Es wurde auch behauptet, dass wenn alle für Deutschland stimmen würden, dann würde der Hitler in Südtirol einmarschieren. Das hat auch viele dann dazu bewogen, fürs Auswandern zu stimmen. Für die Propaganda war hauptsächlich der völkische Kampfring zuständig. Aber mein Vater hat das nicht geglaubt. Vor allem nicht mehr, als wir hörten, dass Hitler mit dem Zug durch Bozen gefahren ist und nicht einmal die Vorhänge geöffnet hat um die ihm zujubelnde Menge zu sehen. Demnach konnten wir ihm ja nicht viel bedeuten.

Es kam zu Streitigkeit innerhalb der Dörfer, ja innerhalb von Familien. Eine Tante von mir und meine Mutter haben sich immer täglich getroffen und einander immer weitergeholfen. Die Tante und ihr Mann haben fürs Optieren gestimmt und wir eben für Dableiben. Von diesem Zeitpunkt an brach der ganze Kontakt völlig ab und man ging sich aus dem Weg. Das war besonders tragisch. Vor allem diese Zeit nach der Option war für uns sehr schwer und traurig. Wir hatten das große Glück, dass wir eine Tante hatten, welche eine deutsche Lehrerin war, welche uns ein wenig Deutsch beibrachte. Aber die Zeit war für uns sehr hart. Einmal erinnere ich mich, haben sie uns zu Hause die Fenster eingeworfen.

Einmal nach der Messe ging er ins Gasthaus. Er setzte sich an einen freien Tisch und bestellte. Es dauerte nicht lange, dann kamen ein paar Optanten zur Tür herein, mit sich trugen sie die Hitlerfahne und sangen Hitler-Lieder. Sie kamen auf meinen Vater zu und stellten ihm einen Eimer mit Schweinefutter auf den Tisch und beschimpften ihn.

Es gab auch einige Um-Optionen. Vor allem von jenen, die damals beim italienischen Militär gewesen sind. Denen hat man gesagt, wenn sie für Deutschland optieren würden, dann würden sie vom Militär freikommen. Dem war dann auch so. Aber einige haben dann gesehen, dass die ganze Familie fürs Dableiben gestimmt hatte und dann haben sie wieder um optiert. Es gab auch einige wenige, die gar nicht abgestimmt haben.

Eine große Rolle spielte auch die Geistlichkeit. Vor allem der Bischof von Brixen, der gesagt hat, dass der Hirte mit der Herde gehen müsse und fürs auswandern gestimmt hat. Das hat schon einige zum Optieren veranlasst. Der Pfarrer Gruber in St. Nikolaus war auch stark fürs auswandern und hat versucht die Leute zu überreden. Und viele haben sich dann auch überreden lassen.

So ging es bis zum 8. September 1943. Italien kapitulierte und die deutsche Wehrmacht besetzte Südtirol. In den einzelnen Orten wurden nun deutsche Vertrauensmänner eingesetzt und der SOD gegründet. Der Vertrauensmann in unserem Dorf war der „Mitterschwienbocher“. Und der hatte dann seine Helfer. Einer von ihnen war der „Temml Sepp“. Diese hatten im Dorf das sagen. Die haben darauf geschaut, dass möglichst viele einrücken, um den Krieg ja zu gewinnen. Und vor allem auch um vor den deutschen Vertretern in Südtirol eine möglichst gute Figur zu machen. Ich kann mich noch gut an eine Aussage erinnern. Ein junger Bauernbursch musste einrücken und nach einer Woche tauchte er wieder an einem Sonntag auf dem Kirchplatz auf. Als der Ve1trauensmann darauf angesprochen wurde, gab er verächtlich zur Antwort, dass dessen Mutter aufs Konsulat gegangen sei, und dort solange geweint hätte, bis man sich ihrer erbarmt hätte. Diesen Fanatismus kann man kaum beschreiben. Der SOD waren für die Ordnung im Dorf zuständig. Mein Vater hatte damals ein kleines Radiogerät, mit dem er dem er heimlich den so genannten Feindsender horchte. Das hat der SOD dann erfahren und das Radiogerät wurde eingezogen. Mein Vater hat sich aber bald danach wieder heimlich ein Gerät zugelegt. Aber mein Vater war manchmal ein zu redseliger Mensch und er hat öfters erzählt, was er im Feindsender gehört hatte. Und deshalb fanden des Öfteren Kontrollen statt. Nach dem Zusammenbruch kamen viele italienische Soldaten durch Ulten, welche versuchten über die Berge ihre Heimatdörfer zu erreichen. Diese wurden von den deutschen Soldaten und vom SOD verfolgt und viele wurden gefangen genommen. Einmal hatte sich der SOD wieder auf die Lauer gelegt. Auf der anderen Seite des Tals führt ein Weg den Berg hoch. Dort waren zwei Personen zu erkennen. Der SOD glaubte, dass es sich um flüchtige italienische Soldaten handeln würde. Da sie sich wohl nicht getrauten nachzusehen, gab der Vertrauensmann den Befehl, zu schießen. Einer wurde getroffen. Zu spät kam man drauf, dass es deutsche Soldaten waren und nicht italienische Soldaten waren. Ein trauriges Erlebnis waren auch die neu eingeführten Muttertage. Die Mütter von Dableibern wurden nicht zu den Feiern eingeladen. Das war eine befremdende Situation für uns. Mein Vater fragte einmal den Vertrauensmann, ob denn seine Frau, die immerhin 13 Kinder in die Welt gesetzt hatte, denn nicht auch eine Mutter sei? Und spöttisch fügte er hinzu: „Es tiat lei fescht Hitler-Turtn essen. Es dauert e niamr long, nor kriags lei mear amerikanischen Nussn“.

1944 bekamen wir dann die Aufforderung zu Musterung. Am 10. Mai 1944 wurden Jahrgänge 1926 und 1927 zur Musterung einberufen. Ich war einer der ersten der gemustert wurde. Ich musste in ein kleines Büro hineingehen und zwei deutsche Soldaten gaben mir ein Dokument, welches ich unterschreiben sollte. Es sei nur die Bestätigung, dass man an der Musterung teilgenommen habe. Was mich ein wenig stutzig machte, war die Tatsache, dass entgegen der deutschen Gründlichkeit, auf dem ganzen Tisch totales Chaos herrschte. Zettel lagen kreuz und quer durcheinander. Der Zettel den ich unterschreiben sollte, lag auf einem Stapel anderer Zettel. Wohl aus Instinkt nahm ich den Zettel und zog ihn weiter zu mir her. Und da merkte ich, wie die beiden Soldaten versuchten möglichst unauffällig den ganzen Stapel zu mir zu schieben. Dann habe ich mir den Zettel genauer angeschaut. Und dann sah ich ganz oben deutlich geschrieben, dass der Unterzeichner des Dokumentes freiwillig zur SS einrücken würde. Ich weigerte mich den Zettel zu unterschreiben. ,,Sie wagen es einem deutschen Offizier zu widersprechen!“, schrie mich der Soldat an. Er verschwand für ein paar Minuten im Hinterzimmer und kam mit meiner Einberufung in der Hand zurück. Die ganze Geschichte hat mich dann gegenüber den Deutschen noch misstrauischer gemacht. Danach musste ich dann nach Schlanders einrücken. Nach der Ausbildung kam ich nach Mals und kurz vor dem Eid bin ich dann als Kriegsdienstverweigerer geflohen. Was mich am meisten traurig stimmte, war die Tatsache, dass es einige im Dorf gab, die es uns Dableibern richtig gegönnt haben, dass wir einrücken mussten. Ich versteckte mich teils in Ulten, teils in Rabbi. Am meisten gelitten haben wir nicht unter der deutschen Besatzung, sondern vielmehr und den einheimischen Helfern. Die kannten jeden Weg, jede Alm, jedes Versteck. Die haben dann alles versucht die Flüchtigen zu finden. In Ulten hatten sie aber wenig Glück. Ich weiß nur vom „Heissele Luis“ aus St. Walburg, den sie gefangen genommen haben. Der wurde dann abtransportiert. Immer mehr Kriegsverweigerer gesellten sich zu uns. Auch Rückkehrer von der Ost- und Westfront auf Heimaturlaub, welche sehr wohl wussten, dass eine erneute Rückkehr zum Dienst den fast sicheren Tot bedeutet hätte. Wir schlugen uns in den Bergen bis Kriegsende durch. Wir hatten zwar immer wieder von der so genannten Sippenhaft gehört und ich weiß auch von einzelnen, wo die Geschwister verhaftet worden sind. Erinnern kann ich mich unter anderem an die „Sonter“, wo zwei Schwestern verhaftet worden sind. Eine kam erst nach sieben Monaten frei. Manche blieben bis Kriegsende in Haft. Meine Mutter hat zu mir gesagt ,,Mit ins olte Leit wearn sie niamr viel oufongen kinnen. Stellt enk jo nit“. Aber zum Glück blieben meine Eltern verschont. In dieser Zeit spielte der Hans Egarter eine wichtige Rolle für uns Deserteure. Der hat uns immer mit den neuesten Informationen versorgt. Als man dann behauptet hat, dass im Passeiertal die ganzen Verwandten der Deserteure verhaftet worden seien, dann hat er uns mitgeteilt, dass dem nicht so wäre. Er war eine wichtige Informationsquelle für uns und hat uns sehr unterstütz. Er war eine große Hilfe. Nach dem Krieg hat er mir dann geholfen, dass ich nicht wieder einrücken musste.

Nach dem Kriegsende kamen wieder die italienischen Carabinieri und erkundigten sich über das Geschehen zwischen 1943 und 45. Der „Sonter Paul“ wurde damals Bürgermeister und hat versucht alles so neutral wie möglich zu schildern. Dem haben viele zu verdanken, dass sie nach dem Krieg nicht von den Carabiniere verfolgt worden sind. Grund dazu hätte es sicherlich gegeben. Obwohl der Krieg zu Ende war, gab es immer gelegentlich Streitigkeiten, die auf die Option zurückzuführen sind. Und ich wage fast zu behaupten, dass dem auch heute noch so ist. Viele sahen schon ein, dass auf beiden Seiten große Fehler passiert sind, aber einige haben das wohl bis heute noch nicht eingesehen. Es gab sicherlich auch einen gewissen Neid. Denn die Dableiber wurden vielleicht nach dem Krieg ein wenig bevorzugt behandelt. Das hat dem einen oder anderen nicht ganz gepasst. Dem Bürgermeister hat man schon einige Schwierigkeiten gemacht, weil er eben ein Dableiber gewesen ist und weil er gerade deswegen diesen Posten bekommen hat.

Für eine gewisse Einigkeit hat dann die Gründung der SVP gespielt. Dadurch haben viele wieder zusammengefunden. Weil wir kamen ja nur gemeinsam weiter. Aber im Großen und Ganzen ist zu sagen, dass die Vergangenheit noch viel zu wenig aufgearbeitet worden ist.