Verboten in der Pause deutsch zu sprechen

Josef Wenin (geb. 1922), Dableiber

Geboren wurde er am 08.06.1922. Von klein arbeitete er auf dem elterlichen Hof Später übernahm er den elterlichen Hof und bewirtschaftet ihn noch heute.

Ich ging Zu Wasser zur Schule. Mit der Einschulung kam ich so richtig das erste Mal mit dem Faschismus in Berührung. Man hatte schon davon gehört, aber als kleiner Junge kann man sich da nicht viel vorstellen. Ich erinnere mich auch daran, wie sie uns dann auch verboten haben in der Pause deutsch zu sprechen. Aber das haben sie nicht geschafft. Nur wenn die Lehrerin direkt neben uns stand haben wir es gemacht. Sonst nicht. Dann haben sie uns nahe gelegt zur Balilla zu gehen. Die Not war groß und da war es für manchen schon ein Grund dazu zu gehen, weil man ja kostenlose Schulbücher und Schuluniformen bekam. Der Tageslohn für gute Arbeiter war damals maximal 5 Euro. Und da konnte man sich nicht viel leisten. Da schrieben manche ihre Kinder bei der Balilla ein, um ihnen wenigstens Schulbücher zu ermöglichen.

In der Zeit wurde dann auch bei uns der Begriff „Walsch“ als Schimpfwort verwendet. Obwohl das im eigentlichen Sinne ja kein Schimpfwort war. Aber man hat es ab damals recht abfällig verwendet. Bei uns zu Hause hat die Mutter immer gesagt, dass wir trotzdem lernen sollten, auch wenn der Unterricht italienisch sei. Manche Eltern aber waren total gegen den italienischen Unterricht und ermutigten die Kinder in der Schule nichts zu lernen.

Beim Religionsunterricht außerhalb der Schule haben wir ein wenig Deutsch lernen. „Heisse Tränen möchte man weinen, wenn ihr einrücken müsst, dann könnte ihr nicht einmal nach Hause schreiben. Und wenn ihr schreiben könnt, dann können sie es zu Hause nicht lesen. An diesen Satz von unserem Karaten erinnere ich mich noch gut. Zuerst hatten wir in der Kirche Unterricht. Im Sommer ging das ganz gut, aber im Winter war es bitter kalt, es gab ja keine Heizung. Da hat der Kurat das „Wiedum-Stadele“ ein wenig hergerichtet, sodass man es beheizen konnten und dann hatten wir dort Unterricht. Das war schon um einiges besser.

Man hat mir auch oft vom „Weiberaufstand“ erzählt. Ich selbst ging damals noch nicht zur Schule, aber meine Brüder. Im Unterricht hat man anatomische Bilder gezeigt. Ein paar Frauen haben sich dagegen aufgelehnt und haben in der Schule die Bilder von den Wänden gerissen und sind dann auch handgreiflich gegenüber den Lehrpersonen geworden. Daraufhin hat man sie dann eingesperrt. Die Schüler, die trotz der Proteste zur Schule gegangen sind, wurden dann von manchen argwöhnisch beobachtet. Sie wurden fast wie, heute würde man sagen Streikbrecher behandelt.

Während der Zeit des Faschismus hat dann ein der Podesta die Rolle des Bürgermeisters übernommen. Der Bürgermeister und sein Rat wurden abgesetzt. Ich erinnere mich noch daran, dass der Bürgermeister einmal eine Pro-Kopfsteuer einführen hat gewollt. Da haben sich die Ultner aber dagegen gewehrt. Ein ganzer Zug von Bürgern aus St. Pankraz ist daraufhin zum Gemeindeamt von St. Walburg marschiert, um gegen diese Steuer zu protestieren. Als der Podesta diese ganze Menge auf sich zukommen gesehen hat, ist er dann geflohen. Aber es hat gewirkt: die Steuer wurde nicht eingeführt. Dies erzähle ich, um aufzuzeigen, welche Freiheiten der Podesta gehabt hätte. Er hätte können Steuern einführen und einheben. Die faschistischen Behörden haben in dieser Zeit mit uns gemacht was sie wollten. Auch die Forstbehörde. Die haben damals ganze Teile von Wäldern zum Fällen markiert. Da konnte der Bauer nichts dagegen sagen. Man hatte einfach das Gefühl der Machtlosigkeit. Je größer der Druck von Seiten der Behörden wurde, umso mehr hat man sich dagegen gewehrt. Nur erwischen lassen durfte man sich nicht, denn sonst hätten sie einen zumindest verprügelt. Es kursierten auch Gerüchte über schwere Misshandlungen. Erst vor kurzem hat mir ein Mann erzählt, der ist nicht aus dem Tal, sondern von Pfunders glaube ich, dass er und sein Bruder von den Finanzern gefoltert worden waren. Er hat erzählt, dass sie ihm und seinem Bruder brennende Zigaretten in die Nase geschoben haben. Dabei waren sie an einem Stuhl festgebunden. Einem ist es dann gelungen sich zu befreien und dann kam es zu einem Handgemenge, bei dem die Soldaten der Finanzwache, welche sie gefoltert hatten, umkamen. Sie wurden danach aber wieder gefangen genommen und wieder eingesperrt und gefoltert. Auch die Eltern hat man eine Zeit lang eingesperrt. Als das faschistische Regime dann zusammenbrach, ist es ihnen irgendwie gelungen nach Österreich zu fliehen. Bei uns hier im Tal sind mir keine so schlimmen Sachen bekannt, aber von leichteren Misshandlungen hat man schon gehört.

Die Zeit der Option war eine schwierige Zeit. Die Leute standen unter einem starken Druck. Viele haben sich dann gesagt, dass sie keine „Walschen“ sein konnten und es nie sein würden. Aber andererseits alles im Stich lassen und einfach von zu Hause wegzugehen fiel ihnen auch schwer. Leichter taten sich da die jungen Leute und jene, die nichts hatte, was sie zurücklassen hätten müssen. Man hat uns auch erzählt, dass auch wenn wir für Italien stimmen würden, wir nicht in Südtirol bleiben könnten, sondern, dass wir allen nach Süditalien kommen würden. Andere haben wiederum das Gegenteil behauptet. Es kam oft zu Streitigkeiten innerhalb der Bevölkerung. Sogar innerhalb der Familien stritt man über das Thema. Ganze Familien wurden zerrissen. Ich erinnere mich an einen Fall in unserer Nachbarschaft. Bein Hof „Zu Wasser“ haben die Eltern gesagt, dass sie nicht mehr auswandern würden, so auch der älteste Sohn, der seine Eltern nicht allein zurücklassen wollte. Die anderen Kinder haben dann fürs Auswandern gestimmt. In vielen Familien entstanden große Probleme, Generationskonflikte.

Es wurden von beiden Seiten immer wieder Informationsversammlungen abgehalten. Vor allem von Seiten der Geistlichkeit. Beim Schmiedhof gab es öfters Versammlung für die Dableiber. Dabei war zumeist der Kanonikus Gamper anwesend und schwor die Leute aufs Dableiben ein. Die große Mehrheit war dann fürs Auswandern. Die Dableiber, welche in der Minderheit waren, wurden von den Optanten oft gehänselt und verspottet. Es gab hier sicherlich auch einen Unterschied zwischen den Menschen. Jene, die sich vorher nicht viel geäußert haben, haben sich jetzt auch nicht viel zu Wort gemeldet und hatte auch ziemlich Ruh vor dem Spott. Jene die vorher schon recht gern und viel geredet haben, haben jetzt erst recht geredet und gespottet, oder wurden eben mehr verspottet.

Ich erinnere mich auch an einen Fall, als ein Dableiber, der zur Wehrmacht einrücken musste, beim Fronturlaub in Uniform zu Messe erschien. Dort begegnete er auch den anderen, die ihn als Dableiber immer beschimpft hatten. Als er sie sah har er ihnen zugerufen: „Do sechts iat den Walschen Fock im deutschen Ehrenkleid“. Dieser Satz zeigt die Ironie des Ganzen.

Alle Leute, die weiterhin in Öffentlichen Einrichtung arbeiten wollten, die durften nicht fürs Auswandern stimmen, denn dann hätten sie sofort ihre Stelle verloren. Später mussten sie dann auch ihren Namen italienisieren lassen. Das fiel den Leuten schon sehr schwer, aber was wollten sie machen. Es war damals eh schon schwer genug eine sichere Arbeit zu finden. Man ist sogar so weit gegangen, dass man auf den Grabsteinen die Namen geändert hat. Erst war dort der Josef begraben und auf einmal lag dort der Giuseppe.
Damals war es auch in Mode Knickerbocker Hosen und dazu weiße Stutzen zu tragen. Auch das hat den Faschisten nicht gepasst. Alles was auch nur im Entferntesten an das Deutschtum erinnert hat, wurde verboten. So auch die deutschen Lieder. Aber je mehr sie versucht haben alles zu verbieten, umso größer wurde der Widerstand.

Der Grund warum so viele fürs Auswandern gestimmt haben, war einfach, dass man den italienischen Staat durch diese ganze Unterdrückung gehasst hat. Heute kann man sich nicht mehr vorstellen, wie wir uns damals gefühlt haben, als wir nicht mehr deutsch sprechen hätten dürfen, oder als wir auf keinem Straßenschild mehr einen deutschen Namen lesen konnten. Als ich während dieser Zeit in Innsbruck das erste Mal wieder deutsche Häuseraufschriften gesehen habe, habe ich mich gefühlt wie ein Erstickender, dem man das Sauerstoffgerät gereicht hatte. So ein Aufatmen war es für mich. Es war für die Leute sehr schlimm. Man muss sich vorstellen, man muss zuschauen wie der zuhause der alte Hofname durch einen italienischen ersetzt wird. Am liebsten hätten sie uns das Deutsch sprechen untereinander verboten, aber das konnten sie nicht kontrollieren.

Nach 1943 war dann der „Sulser Rath“ Bürgermeister in Ulten. Der hat dann einmal zu uns gesagt, dass einer von uns (gemeint waren mein Bruder und ich) einrücken müsste. Wer das sei, das könnten wir uns selbst ausmachen. Das muss man sich einmal vorstellen. Man sollte sich selbst ausmachen, wer an die Front hätte müssen. Eine schwere Entscheidung. Daraufhin hat meine Mutter dann einmal den „Sulser Rath“ auf dem Weg zu Kirche angesprochen. Sie sagte ihm, dass doch beides ihre Kinder seien und sie nicht entscheiden könne, wen sie vielleicht in den Tod schicken würde. Daraufhin antwortete der „Sulser Rath“, sie solle den jüngeren Bruder schicken, dann würd‘ es endlich ein Mensch. Das ließ meine Mutter nicht auf sich sitzen und antwortete, dass es dann wohl schade sei, dass er zu alt zum Einrücken sei, denn wenn man dadurch erst ein Mensch würde, dann hätte er es bitter nötig. Aber es half nichts, einer musste gehen und so traf es aus vielerlei Überlegungen heraus mich. Eine weitere gewichtige Rolle im Dorf spielte der Dorfarzt. Der war auch sehr fürs Optieren und hat stark dafür Werbung gemacht. Aber auch wenn er ein bisschen fanatisch war, wenn es ums Auswandern ging, war er dennoch bei allen sehr beliebt. Er hat den Menschen geholfen, egal ob sie mit ihm gestimmt hatten oder nicht. Dafür hat ihm die Bevölkerung auch als Geste der Dankbarkeit ein Auto geschenkt, dass er leichter zu den Kranken kommen konnte. Als man ihm das Auto überreicht hat, kam es zu einem richtigen Volksfest. Die Straßen wurden geschmückt und die Menschen haben gefeiert. Die Geistlichkeit hingegen war eher fürs Dableiben, obwohl der Karat stark gegen die Italiener war. Einmal mussten die Priester, auch unser Karat, zu einem Treffen mit dem Bischof von Trient. Damals hat man sich erzählt, dass der ein Verräter sei, ein italienischer Spion. Zur Begrüßung hätten alle anwesenden Priester den Ring des Bischofs küssen müssen. Doch unser Karat hat sich geweigert. Zum einen, weil das Gerücht kursierte und zum anderen, weil es ein Italiener war. Schlussendlich aber hat unser Karat dann doch fürs Dableiben gestimmt. Neben dem Steinbach hat man einmal in Gedenken an Mussolinis Bruder Arnaldo einen Gedenkstein errichtet. Dahinter hat man eine kleine Fichte gepflanzt. Dein Stein und die Fichte hätte der Kurat müssen einweihen. Aber er hat sich dann geweigert.

Mit dem Optionsabkommen wollte man eigentlich nur die Rädelsführer dazu bringen auszuwandern. Man hat aber nicht damit gerechnet, dass so eine große Mehrheit fürs Auswandern stimmen würde, sonst hätte es die Italiener wahrscheinlich nicht zu einer Abstimmung kommen lassen. In Österreich hat man dann begonnen ganze Siedlungen für die Auswanderer zu bauen. Ich erinnere mich noch gut, als ich im Lazarett in Wörgel war. Anfänglich kannten sich die Schwestern nicht aus was ich haben würde, bis man endlich feststellte, dass ich an Malaria erkrankt sei. Daraufhin wurde ich in eine Klinik nach Zams verlegt. Ich wusste, dass eine gute Bekannte von uns dorthin ausgewandert ist. Einmal habe ich sie dann besucht. Sie wohnte in einer ziemlich großen Siedlung, welche extra für die Südtirol Optanten gebaut worden war und wo ausschließlich Südtiroler darin wohnten. Solche Siedlungen hat es mehrere gegeben. Andere hatten nicht so viel Glück und wurden auf Höfen angesiedelt, von denen erst eben die Besitzer vertrieben worden waren. Das hat man ihnen zwar nicht gesagt, aber das konnten sie sich eh denken.

Viele konnten sich lange nicht entscheiden, oder haben umoptiert oder dann wieder rückoptiert. Wie gesagt es fiel ihnen halt schwer die Wahl zu treffen zwischen Heimat oder Kultur. Und damals sah es so aus, als ob es nur ein Entweder-Oder gab. Man glaubte, dass man, wenn man hierbleiben würde, noch mehr italienisiert werden würde. Aber immerhin konnte man in der Heimat bleiben. Anderseits konnte man die Kultur behalten, hätte aber die Heimat verloren. Das war schon ein Teufelskreis. Dann kam noch hinzu, dass gesagt wurde, dass man nach Süditalien kommen würde, wenn man dableiben würde. Das hat viele dazu bewogen auszuwandern. Denn wer wollte schon Heimat und Kultur verlieren. Da schien das Auswandern das kleinere Übel zu sein. Zu spät haben die Italiener dann gesagt, dass dem nicht so sei. Doch den Italienern konnte man damals nicht trauen und deswegen haben ihnen nur wenige geglaubt. Und was Hitler wirklich gewollt hat, das hat bei uns hier der einfache Mann nicht verstanden. Für uns galt es nur, unsere deutsche Kultur zu erhalten. Und das hat uns Hitler versprochen. Was er sonst noch mit uns und der Welt vorgehabt hat, davon haben wir nichts gewusst und wenn wir es gewusst hätten, dann hätten wir es, wie erwähnt, nicht verstanden. Die Führung im Dorf haben vor allem diejenigen übernommen, die ein wenig gebildeter waren. Der Kurat hat das Buch „Mein Kampf‘ von Hitler gelesen und von da an war er eben fürs Dableiben. Die wussten schon ein bisschen mehr als wir.

Man hat hier in Ulten dann begonnen die ersten Höfe, Betriebe und Wälder zu schätzen. Die Schätzkommissionen haben dann Baum für Baum geschätzt und markiert. Das war dann für alle ein Zeichen, dass die Option wirklich umgesetzt wird. Manch einer hat gemeint, dass man zwar wählen müsse, dass es aber zur Auswanderung nicht kommen würde. Als man dann sah, wie diese Kommissionen begonnen haben die Besitzungen der Optanten zu schätzen, da hat man dann endgültig begriffen, dass es auch zur Auswanderung kommen wird. Und ich bin mir heute sicher, dass wenn Hitler und Mussolini den Krieg gewonnen hätten, dann wäre es auch so gekommen. Nicht nur für ein paar, sondern für alle Optanten.

Nach dem Krieg hat man dann versucht wieder zur Normalität überzugehen. Aber ganz sind die Risse nie verschwunden. Vor allem die Dableiber haben meiner Meinung nach, immer wieder auf das Geschehen hingewiesen. Die Optanten haben lieber darüber geschwiegen. Oft ärgert mich, wie heute mit dieser Zeit umgesprungen wird. Besonders geärgert hat mich, als der Reinhold Messner behauptet hat, dass alle Optanten Verräter gewesen seien. Wie kann so einer so etwas behaupten. Er war ja nicht dabei. Man kann sich heute nicht vorstellen, was es damals hieß, gehen oder zu bleiben. Vor allem für ältere Leute, die das ganze Leben hier verbracht haben, denen fiel es bestimmt nicht leicht, ihre Heimat zu verlassen. Das waren sicher keine Verräter. Das war einfach eine extreme Zeit. Manche sind öfters bis zur Gemeinde gegangen und sind, ohne zu unterschreiben wieder gegangen, weil sie sich nicht hatten entscheiden können.

Bild: Einweihung des Gedenksteines für Arnaldo Mussolini. Dahinter die in Gedenken gepflanzte Fichte. Die Jugendorganisationen und Vertreter der öffentlichen Ämter und der Regierung nahmen an der Einweihung teil.